Das Richtige und das Notwendige

Warum die Linke Umgestaltung im Kapitalismus und Umgestaltung über den Kapitalismus hinaus verbinden muss

  • Michael Brie und Dieter Klein
  • Lesedauer: 9 Min.

Der Ausgang der Bundestagswahlen hat deutlicher denn je gemacht: Erst wenn SPD und Grüne sich wirklich entschieden auf einen Politikwechsel einlassen, könnte die plurale Linke die Merkel-Union aus dem Sattel werfen. Sonst bleibt es dabei, dass einzelne Reformen wie der Mindestlohn in die neoliberale Politik integriert werden.

Rot-Rot-Grün ist für die Zukunft nicht mehr auszuschließen, aber mit Sigmar Gabriels Formel von dem Schlüssel, der jetzt im Karl-Liebknecht-Haus liege, Veränderungen einseitig von der LINKEN zu erwarten, geht an dem notwendigen Wandel auch auf Seiten der Sozialdemokratie vorbei.

Die Autoren Michael Brie und Dieter Klein

Michael Brie, Jahrgang 1954, hat Philosophie in Berlin und Leningrad studiert. Anfang der 1990er Jahre arbeitete Brie als Professor für Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität, später wurde er Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Neben Engagements beim Institut Solidarische Moderne und bei Attac war er auch in mehreren Programmkommissionen der PDS und der Linkspartei aktiv.

Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Senior Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er hat Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität studiert, war Direktor des Instituts für Politische Ökonomie und Prorektor für Gesellschaftswissenschaften. Maßgebliche Mitwirkung am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus«. Dieter Klein ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne, im Willy-Brandt-Kreis und der Michael-Schumann-Stiftung; zudem hat er in den Programmdebatten von PDS und Linkspartei mitgewirkt.

 

Das heißt nicht, die Linkspartei könnte ihre Politik unverändert fortsetzen. So richtig viele der Vorschläge der LINKEN sind - viele Bürger stimmen ihnen zu und können in ihnen doch keinen gangbaren Weg erkennen, der zugleich wirtschaftlich sinnvoll und machtpolitisch durchsetzbar ist. Vieles scheint realitätsfern.

Ohne Veränderung der Strategie der parteiförmigen Linken und der pluralen Linken insgesamt und ohne eine Verständigung über die konzeptionellen Grundlagen dafür könnten die Chancen für einen wirklichen Politikwechsel auch künftig ungenutzt bleiben. Die Stabilisierung der LINKEN nach dem vorangegangenen Tief bietet ihr günstige Voraussetzungen für eine Selbstbesinnung, zu der die Prüfung ihrer Strategie gehört. Das Konzept einer doppelten Transformation könnte sich als eines der theoretischen Fundamente einer solchen Strategie erweisen.

Der Begriff der doppelten Transformation verbindet die Umgestaltung im Kapitalismus mit der Umgestaltung über den Kapitalismus hinaus, dies in der Gestalt sehr konkreter Projekte und mit der Fähigkeit, sich dabei auf langfristige Prozesse einzulassen. Dazu vier Bemerkungen.

Erstens: Gerade weil die Wirtschaftslage der Bundesrepublik im Vergleich zum übrigen Europa relativ günstig ist, könnte die Bundesrepublik einen besonderen Beitrag zum Einstieg in eine Transformation des gegenwärtigen neoliberalen und finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hin zu einer sozial und ökologisch regulierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft leisten. Mehr repräsentative und direkte partizipative Demokratie, ein erneuerter Sozialstaat als Basis von Sicherheit und Freiheit, ein größeres Gewicht der öffentlichen Daseinsvorsorge und eine verantwortungsvolle Umweltpolitik im Rahmen eines zu verändernden Kapitalismus sind das Gebot der nächsten Zukunft. Der Ausbau des öffentlichen Eigentums und die Stärkung des öffentlichen Banksystems und seiner demokratischen Kontrolle gehören dazu.

Angesichts der Machtfülle der herrschenden Eliten, der Schwäche der Linken, der Größe und Kompliziertheit der aufgestauten Probleme und der tiefen Verankerung bürgerlicher Denkweisen und Maßstäbe in der Mentalität der Bevölkerungsmehrheit wäre diese progressive postneoliberale Transformation ein enormer Fortschritt. Auf diesem Weg könnte erfahren werden, was eigentlich alles wirklich möglich ist.

Eine solche systeminterne progressive Transformation wird eine gravierende Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links voraussetzen und fordert der Linken viel ab. Die Linkspartei würde mit einer solchen strategischen Selbstverortung auch für progressive demokratische Kräfte, die vor allem Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus erstreben, als verlässlicher Bündnispartner erkennbar werden. Zugleich aber kann und muss die LINKE mehr sein, sonst wäre sie nicht links und sozialistisch.

Der Begriff doppelte Transformation weist zweitens darauf hin, dass die Strategie einer modernen Linken im 21. Jahrhundert auf mehr zielen muss als auf einen systeminternen Wandel des Kapitalismus. Die monopolistischen und finanzkapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse sind die entscheidende Ursache dafür, dass wir unter den gesellschaftlich erarbeiteten Möglichkeiten leben, dass Unsicherheit und Ungleichheit zunehmen, dass eine Klimakatastrophe droht und die Artenvielfalt unrettbar reduziert wird. Hunger, Kriege, die Kluft zwischen arm und reich und die Verwandlung von Demokratie in eine Fassade für neoliberale Notprogramme haben vor allem hier ihren Ausgangspunkt.

Deshalb muss die kapitalistische Zivilisation mit ihrer Produktions- und Lebensweise und ihren Geschlechterverhältnissen bereits mitten im Übergang zu progressiveren Gestalten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften in Frage gestellt werden. Transformation im Kapitalismus und Transformation über ihn hinaus gehören zusammen. Eine sozialistische Linke hat in dieser Frage ein Alleinstellungsmerkmal. Sie muss zugleich fähig zur Kooperation mit reformorientierten Kräften wie zur Auseinandersetzung mit Profitdominanz und Primat der Kapitalverwertung sein.

Dies ist auch die Lehre aus der Ablösung des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, der »sozialen Marktwirtschaft«, durch den gegenwärtigen finanzmarktgetriebenen neoliberalen Kapitalismus in den letzten vierzig Jahren. Eine mögliche künftige sozial und ökologisch regulierte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft muss sich vor solchem Roll back schützen. Die Macht- und Eigentumsverhältnisse müssen vom Standpunkt einer transformatorisch orientierten Realpolitik deutlich verändert werden, damit es nicht wieder eine Wende hin zum entfesselten Kapitalismus geben kann. Das fordert der SPD und den Grünen erhebliche Lernprozesse ab.

Drittens verweist die Orientierung auf eine doppelte Transformation auf die Dialektik unserer Strategie. Dazu gehört, um jede unter den gegebenen Verhältnissen mögliche Verbesserung und Reform zu kämpfen und zugleich in diesen Verhältnissen praktische solidarische, potenziell sozialistische Elemente, Tendenzen, Eigentumsverhältnisse und politische Formen zu erkennen, aufzugreifen und als Ansätze gesellschaftlicher Transformation zu entfalten.

Dass sich die Brandenburgische Gemeinde Feldheim mit ihren Windrädern, einem kleinen Solarpark, einer Holzhackschnitzelheizung und einem eigenen Ortswärmenetz vom Eon-Konzern unabhängig gemacht hat, sprengt die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht. Aber die Gemeinde arbeitet nach einer solidarischen Logik. Die Elektrizitätswerke Schönau, nach zwei Bürgerentscheiden durch Netzkauf von der EnBW-Tochter KWR entstanden und genossenschaftlich basiert, liefern 100 Prozent Ökostrom an über 95 000 Kunden in ganz Deutschland. Die Bürgerinitiative »Stuttgarter Wasserforum« hat nach achtjährigem Kampf erreicht, dass die Stadt das Auslaufen der EnBW-Konzession für die vollständige kommunale Rückübernahme der Wasserversorgung nutzt. Die Kämpfe des Energie- und des Wassertischs in Berlin weisen in die gleiche Richtung der Kommunalisierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Zugleich ist in Deutschland die Zahl der Ökostrom-Genossenschaften auf 650 angestiegen. Sie haben 130 000 Mitglieder. 2,2 Millionen Menschen arbeiten im Non-Profit-Sektor.

Wenn öffentliche Güter wie Gesundheit, Bildung, Information, Wasser, Energie und Mobilität in einer Gegenbewegung zum neoliberalen Privatisierungsrausch in öffentlicher Hand gehalten, in sie zurückgeführt werden, genossenschaftlich bewirtschaftet oder als Gemeingüter von den NutzerInnen im gemeinsamen Interesse verwaltet werden, überschreitet zwar auch dies den Rahmen der gegenwärtigen Gesellschaft noch nicht. Doch es werden Chancen dafür eröffnet, dem Gemeinwohl den Vorrang vor dem Profit zu geben.

Wenn durch Bankenregulierung, mehr Souveränität der Parlamente und mehr Mitbestimmung in den Unternehmen, durch Sozial- und Ökoräte, Stadtteilversammlungen wie in Madrid, Bürgerhaushalte, Kiezfonds und Bürgerjurys wie in Berlin-Lichtenberg, wenn durch solidarische Versorgungsgemeinschaften, Fair-Trade-Läden, Gemeinschaftsgärten und zusammenführende Projekte wie Transition Town Erfurt Bürger ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen, kann dies zu einem Einstieg werden, der über den Kapitalismus hinaus weist.

Noch sind es nur einzelne Elemente, aber sie haben ein Potenzial für mehr. Die jetzige Krise macht deutlich, dass viel weitergehende Schritte möglich und notwendig sind. Dem Finanzmarktkapitalismus kann das Genick gebrochen werden - auch und gerade im Interesse einer stabilen Wirtschaft, sicherer Arbeitsplätze und einer umfassenden Wende in der Energiepolitik.

Zur Voraussetzung dafür gehört, dass soziale, ökologische, feministische und Gewerkschaftsbewegungen, dass Solidarität mit Migrantinnen und Migranten entschieden stärker werden und die plurale Linke ihre Differenzen solidarisch austrägt und konkrete gemeinsame Projekte entwickelt.

Wirkliches Überschreiten der Gegenwart, so schrieb Ernst Bloch, »begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt.« Nicht herkömmliche Reform allein, nicht revolutionärer Bruch allein, sondern doppelte Transformation als ein »Aufheben« der Stärken von beiden und als Abschied von ihren Begrenzungen - das könnte eine konzeptionelle Grundlage langfristiger Strategie der gesellschaftlichen Linken und nicht zuletzt der Linkspartei sein.

Viertens fordert das Konzept einer doppelten Transformation der Linken stärker als bisher eine strikte Orientierung auf das Prozesshafte in der Politik ab. Es bedarf der Fähigkeit, die realen Widersprüche von links her in Bewegung zu versetzen.

Die Forderung der LINKEN nach Auflösung der NATO beispielsweise stößt auf den Einwand, dass der Bruch mit einem über 60 Jahre etablierten Vertragssystem Deutschland aus festen Verankerungen herausreißen, seine Verlässlichkeit verspielen und internationale Kräftekonstellationen destabilisieren würde. Gerade die östlichen Nachbarn könnten dies nicht akzeptieren. Dies muss auch die Linke in Deutschland in Rechnung stellen.

In der Linkspartei entwickelt sich deshalb die Auffassung, dass die Ersetzung dieses Militärbündnisses durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands als ein längerer transformatorischer Prozess zu verstehen sei, der nicht in einer oder zwei Legislaturperioden abgeschlossen sein wird. Sicherheitspolitische Realpolitik wird die vertragliche Ausgangssituation anerkennen müssen. Vertrauen muss wachsen. Zu entscheiden wäre nach Einzelprüfungen zwischen UN-mandatierten friedenssichernden Formen von Auslandseinsätzen und abzulehnenden Kampfeinsätzen der Bundeswehr.

Solange die NATO noch existiert, könnte die Mitgliedschaft Deutschlands im Bündnis bei gleichzeitiger Verweigerung gegenüber Kampfeinsätzen ein Kompromiss sein, den DIE LINKE eingeht, ohne ihre Identität als Antikriegspartei aufzugeben. Deutschland würde sich nicht aus dem Bündnis lösen, sondern mit einem hohen Einsatz für zivile sozialökologische Befriedung von Konfliktsituationen eine zentrale Aufgabe bei der Herausbildung kollektiver Sicherheit wahrnehmen. Eine solche länger währende Übergangssituation wäre ein Fortschritt, wenn sie erkennbar in Schritte zu Abrüstung und zu einem kollektiven Sicherheitssystem eingebettet wird, dessen Struktur dem komplexen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, kulturellen, ethnischen, demografischen und auch militärischen Inhalt menschlicher Sicherheit entspricht. Die Linkspartei verlangt das Verbot aller Waffenexporte, aber als ersten Schritt fordert sie das sofortige Verbot aller Exporte von Kleinwaffen und von Waffenfabriken - für die Friedenspolitik auch einer bürgerlichen Republik gewiss nicht unzumutbar, aber lebensrettend für Hunderttausende und ein Schritt zu einer Welt der Abrüstung.

Selbst auf dem am meisten umstrittenen Feld der Sicherheitspolitik ist also die Verknüpfung machbarer Reformschritte mit weiterreichenden Transformationsprozessen möglich. Der SPD würde dies die Einsicht abverlangen, dass langfristig nicht ein Militärbündnis unter Dominanz der USA, sondern ein kollektives, nicht ausschließendes Sicherheitssystem den Herausforderungen friedlicher Entwicklung angemessen ist.

Walter Benjamin sprach von Dialektik als Fähigkeit, Segel zu setzen, um - mit dem Wind - gegen den Wind anzusteuern. Linkes transformatorisches Denken bietet dafür wesentliche Voraussetzungen. Über den Kapitalismus hinaus zu zielen, ist das Richtige. Den Weg dahin im Kapitalismus zu suchen, ist das Notwendige. Beides zu verbinden ist das Mögliche. Der Widerspruch zwischen beiden Momenten ist mit Vernunft und Entschiedenheit produktiv zu machen, um das bisher noch Unmögliche zu erreichen - einen demokratischen grünen Sozialismus, der die Ausbeutung von Mensch und Natur für immer beendet.

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